Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) by Yan Mo

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) by Yan Mo

Autor:Yan, Mo [Yan, Mo]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG (com)
veröffentlicht: 2012-10-21T22:00:00+00:00


2.

Zhao Jia winkte einen Eselskarren herbei, auf dem Kohlen transportiert wurden, und begleitete den Beamten bis zu einem heruntergekommenen alten Tempel in der Nähe des Xishi-Tors. Im verschneiten Hof des Tempels übte sich ein großgewachsener junger Mann, der so dürr aussah, als könnte ihn ein Windhauch umwerfen, auf dem verschneiten Gelände in der Kampfkunst. Trotz der unbarmherzigen Kälte trug er nicht mehr als ein dünnes Hemd und schwitzte am ganzen Körper. Als Zhao Jia den Beamten auf dem Karren in den Hof brachte, kam der junge Mann sofort herbeigerannt und rief: »Vater!« Dann brach er in Tränen aus. Im Tempel gab es keine Feuerstelle, der kalte Wind heulte durch die Papierfenster. Die Ritzen in den Mauern hatte man notdürftig mit alten Lumpen verstopft. Am Kopfende des Kangs kauerte eine Frau vor einem Spinnrad. Sie hatte ein verwittertes Gesicht und ihr Haar war von vielen weißen Strähnen durchzogen. Sie wirkte wie ein altes Großmütterchen. Zhao Jia legte den Beamten mit Hilfe seines Sohnes auf den Kang, machte eine Verbeugung und wollte sich entfernen.

»Mein Name ist Liu, mein Vorname Guangdi, ich habe im Jahr Guiwei der Ära unseres Kaisers Guangxu den Doktortitel erlangt und bin schon seit vielen Jahren leitender Beamter im Tribunal des Justizministeriums, das hier sind meine Frau und mein Sohn. Wir befinden uns in so ärmlichen Verhältnissen, daß wir der Großmutter lächerlich vorkommen müssen!« sagte er freundlich.

»Exzellenz hat meine Wenigkeit also doch erkannt ...« sagte Zhao Jia, und lief rot an.

»Tatsächlich sind deine Arbeit und die meine im Grunde so verschieden nicht. Beide arbeiten wir für das Reich im Dienste Seiner Majestät des Kaisers. Doch du bist wichtiger als ich.« Liu Guangdi seufzte. »Selbst wenn ein paar leitende Beamte im Tribunal des Justizministeriums fehlten, ginge die Arbeit im Ministerium ihren Gang. Doch wenn es Großmutter Zhao nicht gäbe, verdiente das Ministerium seinen Namen nicht. Denn den tausenden von Gesetzen dieses Staates wird letztendlich nur durch dein Schwert zu ihrer Geltung verholfen.«

Zhao Jia kniete gerührt nieder. »Exzellenz Liu, ich bin Euch für Eure Worte aufrichtig dankbar, denn in den Augen der meisten ist der Wert von Leuten meines Metiers geringer als der von Hunden und Schweinen! Und Ihr, Exzellenz, hebt uns auf eine so hohe Stufe!«

»Steh auf, steh auf, guter Zhao«, sagte Liu Guangdi, »für heute möchte ich dich nicht länger aufhalten, ein andermal lade ich dich gerne zu einem Glas Wein ein.« Er wandte sich an den mageren jungen Mann: »Pu'er, bring Großmutter Zhao bitte zum Tor.«

Zhao Jia sagte hastig: »Es ist wirklich nicht nötig, Euren Sohn zu bemühen ...«

Der junge Mann lächelte ein wenig und machte eine höfliche Verbeugung. Seine Artigkeit und seine Bescheidenheit hinterließen bei Zhao Jia einen bleibenden Eindruck.



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